Do it yourself Schülerdemonstration für Toleranz

Demokratie handelnd erleben

Alles begann vor fünf Jahren im Fach Gesellschaftslehre in der Klasse 6b einer Gesamtschule im Ruhrgebiet. Zuvor hatten die Schülerinnen und Schüler sich über Kinder- und Menschenrechte informiert und diskutierten, inwiefern Menschen aus anderen Ländern weniger Rechte haben, als Menschen in Europa, in Deutschland oder in Recklinghausen. Die Klasse kam darauf zu sprechen, wie Menschen, die neu in Recklinghausen sind und lange Wege zurückgelegt hatten, hier behandelt werden. Wichtige Fragen standen im Raum: „Warum werden diese Menschen anders angesehen, anders angesprochen, oder anders behandelt. Die Schülerinnen und Schüler erinnerten sich an Szenen aus ihrem eigenen Leben: auf dem Pausenhof, an der Bushaltestelle oder am Bahnhof. Sie berichteten von ihren Beobachtungen und ihren Erfahrungen.

„Halt mal die Klappe, du Kanacke.“

„Scheiß Neger.“

„Hat man dir in deinem Land nicht beigebracht den Platz anzubieten.“

„Wir sind hier in Deutschland.“

Sprüche, Verhaltensweisen, Demütigungen, die man als weißer Mann ohne ein geschultes Bewusstsein nur am Rande seiner Erfahrungswelt wahrnimmt. Allerdings sind diese für die Schülerinnen und Schüler, deren Eltern oder Großeltern, die vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen, Alltag. Sie zeigen, dass Demokratie nicht nur bei Abstimmungen oder Wahlen beobachtbar sein sollte. Im Klassenraum argumentierten die Kinder voller Enthusiasmus, dass jedes demütigende Verhalten auf Grund von Haut- und Haarfarbe, Herkunft, Religion, Sexualität, Aussehen und vielen anderen Gründen zu verurteilen ist. Aber wenn nach 45 Minuten die Schulglocke ertönt, ersticken solche Diskussionen und es beginnt Mathematik. Nicht so bei diesem Projekt. Mit einer einfachen Frage wollte Fabienne (12 Jahre) diese Stunde nicht einfach enden lassen. Mutig wollte sie handeln und fragte „Warum streiken wir nicht gegen den Hass auf den Straßen?“ Vielleicht hat es Fabienne nicht so ernst gemeint, und damals war ihr noch nicht klar, wo der Unterschied zwischen Streiken und Demonstrieren liegt, aber erkannte die Lerngruppe und ich, ihr Lehrer Matthias Flüß. Den Funken Zivilcourage, setzte den Startpunkt für die „Do it yourself Schülerdemonstration“.

„Machen wir das tatsächlich?“

Diese Frage stellten nicht nur die Schülerinnen und Schüler 2018; diese Frage fiel zu Beginn jeder Schülerdemonstration. Die jungen Menschen konnten es kaum glauben, dass ihr Handeln, ihre Idee und ihr Einsatz tatsächlich die immergleichen Wände des Klassenraums verlässt und ihr Projekt eine große Bedeutung für ihre Schule und ihre Stadt besitzt. Gerade dieses Maß an Selbstwirksamkeit birgt ein riesiges Motivationspotential. Alle Schritte zur eigenen Planung und Durchführung der Schülerdemonstration wurden kleinschrittig didaktisiert. Sie verbergen sich nun in einem silberglänzenden Alukoffer. Dabei geht es nicht darum, Wissen zu vermitteln. Es ist unwichtig, Paragrafen auswendig zu lernen oder Satzungen zu studieren. Für das Projekt steht das Verständnis im Vordergrund. Die jungen Menschen sollen verstehen, warum es so wichtig ist, zu demonstrieren und die Gesellschaft mitzugestalten. Sie sollen verstehen, weshalb dieses Recht ein Privileg ist. Daher widmet sich der erste der zwei Lernschritte dem Verständnis; und der zweite dem Projektmanagement.

Mit den ersten Methoden bieten sich den Schülerinnen und Schülern zahlreiche Diskussionsanlässe. In einem Rollenspiel erleben sie, wie einem Mädchen der Ausbildungsplatz in einer Kfz-Werkstatt verwehrt bleibt, wie Emre keine Wohnung für seine Familie erhält oder Kai Probleme mit seinem Rollstuhl im Kino hat. Sie eifern in einem Wettrennen mit unterschiedlichen Startvoraussetzungen um den ersten Platz oder entdecken Hetze und Hass auf Social-Media-Kanäle. Sie erkennen, dass ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen keine Einzelfälle sind. Wenn sie sich nach den Spielen mit den Artikeln des Grundgesetzes, ggf. in einfacher Sprache, auseinandersetzen, wächst das Gefühl der Unfairness. „Warum passieren diese Dinge, wenn es doch die wichtigsten Regeln Deutschlands es verbieten?“, fragen die Schüler:innen häufig. Es entsteht der Mut zu handeln. Sie selbst setzen sich die Aufgabe und das Ziel, die Gesellschaft mitzugestalten und ihre Moralvorstellungen öffentlich zu zeigen. 

Dabei geht es nicht bloß darum, eine Demonstration zu planen. Jede Schülerin und jeder Schüler soll sich mit seinen individuellen Stärken in das Projekt einbinden. In vier Teams gehen die jungen Menschen in das Projektmanagement. 2022 war die Begeisterung für die Schülerdemonstration sogar so groß, dass diese Arbeit jahrgangsübergreifend stattfand. Schülerinnen und Schüler arbeiteten teilweise nach dem Ganztagsunterricht oder ließen sich für einzelne Stunden von ihren Fachlehrerinnen und -lehrern befreien und planten ihre Demonstration.

Im Organisationsteam fanden sich die Denker und Lenker wieder. Gemeinsam entwickelten sie Vorträge für die Schulleitung und setzten Termine und Uhrzeiten fest. Aus den Sensibilisierungsspielen zu Beginn des Projekts wussten sie, dass der Demonstrationsweg haargenau beschrieben werden musste. So schritten sie ihn virtuell und analog ab und informierten die Partnergruppen.

Das „Team Werbemeister:innen“ kümmerte sich darum Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu finden. In jeder Klasse der Schule sprach das Team mit einem zuvor erprobten Referat vor. Unzählige Briefe an Schulen der Stadt wurden verfasst. Auch der WDR und die Lokalpresse eingeladen sowie Interviews mit dem Radio geführt.

Banner und Plakate dürfen auf keiner echten Demonstration fehlen. Zunächst planten die Schülerinnen welche Materialien sie brauchten, sammelten Ideen aus dem Internet und begannen zu malen. „Unsere Nationalität? Mensch.“ War nur einer der vielen kreativen Sprüche, mit denen die jungen Menschen ihre Meinung öffentlich sagten.

Das Team Showmaster gestaltete ein Bühnenprogramm. Dabei war Ideenreichtum wie Planungskompetenz gefragt. Sie entwickelten mit anderen Klassen und Schulen Vorträge, Reden, Gedichte; selbst kleine Theaterstücke brachten Schülerinnen und Schüler ein, um lautstark für ihre Meinung zu werben. Leah, eine Schülerin des Jg. 10, entwickelte eine Ballonaktion. Im Internet recherchierte sie nach kompostierbaren Luftballons. An diese bunten Luftballons hing sie Samenkarten mit Nachrichten oder Wünschen auf, wie Menschen sich einander begegnen sollten. Bei der Demonstration verteilte sie 60 Ballons und schickte ihre Wünsche mit etwas Helium in die Welt hinaus.

 

Am 21.03.2022 war es dann so weit. Zur letzten Generalprobe traf sich das buntgemischte Planungsteam aus den Jahrgängen 7-11 auf dem Schulhof. Der Ton wurde gecheckt, das Klavier überprüft und die Bühne geschmückt. Langsam trudelten die Mitstreiter:innen aus ihrem Unterricht ein. Aber nicht nur aus der eigenen Schule. Weitere Real- und Gesamtschulen, Gymnasien und Berufkollegs waren den Briefen der Schülerinnen und Schüler gefolgt. So versammelten sich 1000 junge Menschen mit Trillerpfeifen und eigenen Plakaten auf dem Schulhof. Gemeinsam zogen sie flankiert von der Polizei durch die Stadt und setzten sich gemeinsam für ihre Werte ein. 

In einem Podcast (Immer Sommer) wurde ich gefragt, ob die Jugend heutzutage politikverdrossen sei. Es ist nicht die Frage ob, sondern wer. Denn genau diese Schülerinnen und Schüler unserer Schule, erleben Polizei und den Staat ganz anders. Von Kindesbeinen an spüren sie, dass ihre Stimme weniger Gewicht hat oder nicht gehört wird. Durch solche Projekte erfahren und erleben diese jungen Menschen Demokratie und Teilhabe. Sie handeln selbstwirksam und spüren den Erfolg ihres Projekts. 

Vor zwei Monaten lud eine ehemaligen Schülerin zu ihrer Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine ein. Mein Grinsen und mein Stolz auf diese junge Frau hätten kaum größer sein können, als ich sie dort in Datteln besuchte.

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