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Politikverdrossenheit? Weit gefehlt!

Aktualisiert: 12. Apr.

Schülerschaft organisiert eigene Demonstration für Toleranz

Alles begann vor fünf Jahren im Fach Gesellschaftslehre in der Klasse 6b einer Gesamtschule in Recklinghausen und fand im vergangenen Jahr mit einer großen Demonstration auf dem Schulhof seinen ersten Höhepunkt. Ein kleiner Funke Zivilcourage setzte den Startpunkt für die „Do it yourself Schülerdemonstration“.

Zuvor hatte sich die Klasse über Kinder- und Menschenrechte informiert und diskutiert, inwiefern Menschen aus anderen Ländern weniger Rechte haben als Menschen in Europa, Deutschland oder eben in Recklinghausen. Sie fragten sich, warum Menschen, die neu in der Stadt sind und oft lange Wege zurückgelegt haben, anders angesehen, anders angesprochen oder anders behandelt werden. Szenen aus ihrem eigenen Leben kamen hoch: auf dem Pausenhof, an der Bushaltestelle oder am Bahnhof. Dabei berichteten sie von folgenden Erlebnissen:

„Halt mal die Klappe, du K*cke.“
„Scheiß N**.“
„Hat man dir in deinem Land nicht beigebracht, den Platz anzubieten?“



„Wir sind hier in Deutschland.“

Sprüche, Verhaltensweisen und Demütigungen, die Personen mit weißer Hautfarbe oder ohne geschultes Bewusstsein oft gar nicht wahrnehmen. Für Schülerinnen und Schüler, deren Eltern oder Großeltern vor Jahrzehnten zugezogen sind, gehören solche Erfahrungen hingegen zum Alltag. Das zeigt, dass Demokratie nicht nur bei Abstimmungen oder Wahlen zählt. Im Klassenraum argumentierten die Kinder voller Enthusiasmus, dass jedes demütigende Verhalten aufgrund von Haut- oder Haarfarbe, Herkunft, Religion, Sexualität, Aussehen und anderen Merkmalen abzulehnen ist. Aber nach 45 Minuten ertönt die Schulglocke – und solche Diskussionen verstummen.

Nicht so bei diesem Projekt: Mit einer einfachen Frage wollte Fabienne (12) die Stunde nicht enden lassen. Mutig fragte sie: „Warum streiken wir nicht gegen den Hass auf den Straßen?“ Vielleicht meinte sie es nicht zu 100 % ernst, und damals kannte sie den Unterschied zwischen Streik und Demonstration noch nicht genau. Doch dieser Funke Zivilcourage brachte die „Do it yourself Schülerdemonstration“ ins Rollen.


„Machen wir das tatsächlich?“

Diese Frage stellten sich die Schülerinnen und Schüler nicht nur 2018; sie fiel zu Beginn jeder Schülerdemonstration. Die Jugendlichen konnten kaum glauben, dass ihr Handeln, ihre Idee und ihr Einsatz tatsächlich die vier Wände des Klassenraums verließen und ein Projekt von Bedeutung für Schule und Stadt entstand. Genau dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit entfacht eine enorme Motivation.

Alle Schritte – von der Planung bis zur Durchführung einer eigenen Demonstration – wurden in kleinen, didaktischen Bausteinen aufbereitet und in einem silberglänzenden Alukoffer verstaut. Dabei geht es nicht darum, Paragrafen auswendig zu lernen oder Satzungen zu studieren. Für das Projekt „Do it yourself Schülerdemonstration“ steht das Verständnis im Vordergrund. Erst wird geklärt, warum Demonstrationen so wichtig sind und weshalb das Recht darauf ein Privileg ist. Danach folgt das Projektmanagement in vier Teams.


Schritte zur Selbstwirksamkeit


Im ersten Teil erleben die Schülerinnen und Schüler mithilfe von Rollenspielen und verschiedenen Methoden, wie Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Behinderung benachteiligt werden. In einem Wettrennen etwa starten sie mit ungleichen Voraussetzungen und erkennen, dass ihre eigenen Erfahrungen oder Beobachtungen keine Einzelfälle sind. Im Anschluss befassen sie sich mit Artikeln des Grundgesetzes (ggf. in einfacher Sprache). Ihr Gefühl von Ungerechtigkeit und Unfairness wächst: „Warum passieren diese Dinge, wenn es doch gegen die Regeln unseres Landes verstößt?“ Der Mut zu handeln entsteht, und sie setzen sich selbst das Ziel, die Gesellschaft mitzugestalten und ihre Ideale öffentlich zu zeigen.

Das Projektmanagement: Vier Teams

Hierbei sollen alle mit ihren individuellen Stärken ins Projekt einfließen.

  1. Team Organisation: Die Planerinnen und Planer klären Termine, Uhrzeiten und den genauen Demonstrationsweg. Sie entwickeln Präsentationen für die Schulleitung und behalten die Übersicht.

  2. Team Werbung: Dieses Team informiert andere Klassen, schreibt Briefe an Nachbarschulen und nimmt Kontakt zu Lokalpresse und WDR auf. Auch Interviews mit dem Radio werden hier arrangiert.

  3. Team Malermeister*innen: Ob Banner oder Plakate – die kreativen Köpfe gestalten ansprechendes Bildmaterial mit Statements wie „Unsere Nationalität? Mensch.“

  4. Team Showmaster: Vom Bühnenprogramm über kleine Theaterstücke bis hin zu Reden und Gedichten: Hier ist Ideenreichtum gefragt. Ein Highlight war eine Ballonaktion mit Wünschen und Samenkarten, die in den Himmel stiegen.


Der große Tag

Am 21.03.2024 traf sich das schulübergreifende Planungsteam (Jahrgänge 7 bis 11) am Schulhof. Sie checkten Ton, Klavier und Bühne. Nach und nach strömten mehrere Klassen aus unterschiedlichen Schulformen dazu – insgesamt rund 1.000 junge Menschen. Begleitet von der Polizei zogen sie gemeinsam durch die Stadt, um lautstark ein Zeichen für Toleranz und gegen Hass zu setzen.


Schülerdemonstration
Schülerdemonstration


Ziel erreicht

In einem Podcast-Interview wurde ich kürzlich gefragt, ob die Jugend politikverdrossen sei. Die Antwort lautet: nicht per se. Gerade jene Schülerinnen und Schüler, die Rassismus und Diskriminierung erfahren, erleben Polizei und Staat anders. Durch solche Projekte erfahren sie demokratische Teilhabe und werden darin bestärkt, selbstbewusst aktiv zu werden.

Vor zwei Monaten lud mich eine ehemalige Schülerin zu ihrer eigenen Demo gegen den Ukraine-Krieg ein – und mein Stolz hätte kaum größer sein können, als ich sie dort in Datteln demonstrieren sah.


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